Reformation, Religionsfriede und politischer Friedenswille

Vorbemerkung: Religion und Freiheit

Als Beginn der Reformation gilt Martin Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirche in Wittenberg am 31. Oktober 1517. Jährlich an diesem Datum begehen protestantische ChristInnen den Reformationstag (üblicherweise werden auch andere Konfessionen eingeladen, ebenso am Buß- und Bettag, Mitte November). 2017 feierte man das fünfhundertjährige Jubiläum.
Luther vertrat u.a. die folgenreiche Lehre von der Freiheit eines Christenmenschen. Das Wartburgfest 1817 – Luther hatte sich auf die Wartburg in Thüringen flüchten können und übersetzte dort das Neue Testament – wurde in Deutschland zur Initialzündung für die Forderung nach freiheitlichen Verfassungen in den deutschen Ländern. (Deutschland war damals ja ein Viel-Länder-Staatenbund, ähnlich wie heute die EU.)
Zu Recht erinnert man daran, dass moderne Rechtsstaaten, basierend auf umfassenden individuellen Freiheitsrechten, ihre religiösen Wurzeln haben.
Manche Gelehrte weisen auch darauf hin, dass Thomas von Aquin – ein prägender Kirchenlehrer des 13. Jahrhunderts – die oberste moralische Instanz im eigenen Gewissen des einzelnen Menschen sah.

Religion und Friede

Alle Religionsfragen in Deutschland stehen unter zwei historischen Einsichten:
a. Selbst die christliche Religion – mit ihrer Friedensbotschaft als einem Kerngedanken – konnte zu Krieg und Gewalt führen; es folgte das Zeitalter der Religionskriege.
b. Die zweite Einsicht bezieht sich darauf: Man muss – aktiv und entschlossen – Frieden wollen und Frieden halten. Nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) schloss man den Westfälischen Frieden: die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens verschiedener Konfessionen.
Es ist heute noch bekannt, wie viele verzehrte Ochsen es brauchte, um den Text in mehrjährigen Verhandlungen fertigzustellen. Er beginnt mit den Worten „Pax sit Christiana“ – es herrsche Frieden unter den Christen. Der Dichter Friedrich Schiller – der auch Geschichtsprofessor war – rühmte in der Rückschau, wie segensreich dieser Friede sich seither auf die Entwicklung von Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft auswirkte.

Verderbliche politische Religionen der Moderne

Das 19. und 20. Jahrhundert brachten allerdings – in der Epoche nach Schiller, in unserer Epoche, der Moderne – neues hochproblematisches Gedankengut: Atheistische Lehren mit quasi-religiösem Absolutheitsanspruch. Die Forschung nennt sie treffenderweise gerne „politische Religionen“ (Eric Voegelin, Hans Maier).
Sie wurden im 20. Jahrhundert Realität: 1917 kam es zur Oktoberrevolution in Russland, 1933 wurde Hitler Reichskanzler in Berlin.
Es ist bemerkenswert, welchen hohen Anteil deutsche Denker an den politischen Ideologien von links und rechts hatten. Sie machten das 20. Jahrhundert – neben seinen lichten Seiten, seinen vielfältigen Fortschritten – auch zum dunkelsten der gesamten Menschheitsgeschichte. Ist es vorbei?

Vorrang der Menschenrechte

Eine der Reaktionen darauf war das deutsche Grundgesetz (1949). Die erste deutsche Demokratie war in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 gescheitert. Es folgten die NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg. Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes war es elementar wichtig, dass die Demokratie nur im Rahmen eines Rechtsstaates, im Rahmen der Grundrechte stattfindet. Mehrheiten dürfen nicht alles. Die Grundrechte stehen – auch im Verfassungstext – allen weiteren Regelungen, selbst den Staatszielbestimmungen, voran.
D.h., nicht jede Mehrheitsentscheidung und jede Demokratie ist gut. Legitim ist Politik nur, wenn sie sich zu – letztlich philosophischen, politisch „nicht verhandelbaren“ Wertegrundlagen bekennt.

Immer aktuell – Fokus auf politische Bildung

Es ist nicht schwer, den Bezug zur Gegenwart und Zukunft zu finden. Bundespräsident Steinmeier hat unlängst gefordert, wer hier in Deutschland lebe, müsse sich auch zur deutschen Geschichte bekennen. Und d.h., niemand darf hier ein neues Zeitalter der Religionskriege, aber auch keine zweite scheiternde Demokratie veranstalten dürfen.
Es liegt an uns – auch an uns als AutorInnen – zu informieren. Wir glauben nicht, dass es Menschen beleidigt, wenn sie politische Bildung erhalten. Im Gegenteil: Man nimmt sie ernst.
In- wie ausländische Köpfe können von und an Deutschland lernen, mit welchen Konzepten wir katastrophal schlecht – und mit welchen wir wirklich gut gefahren sind.
co

Ergänzung: Fortschreitende, reguläre Orientierungskrise

Wir hängen diese Kurzinfo an: Dies ist ein Blog, eine Website, ein Thinktank, der dem Zeitenwandel der modernen Welt gilt. Ein Zeitenwandel, der sich keineswegs nur auf die westlichen Staaten und ihre politische Ordnung beschränkt.
Dazu gehören – ganz regelmäßig eintretende – Orientierungskrisen. So, wie kein Schiff mit eingebautem guten Wetter zu bekommen ist, gibt es auch keinen Staat, der eine solche Orientierungskrise wegzaubern könnte. Man kann sie nur – möglichst gut – bewältigen.

Bitte Problemmeldungen – wertschätzen

Demokratien haben u.a. diesen entscheidenden Vorteil (der zunächst fast wie ein Nachteil erscheinen mag): Sie können Problemmeldungen nicht unterdrücken. Alle anderen Staatsformen schon. Ja, noch mehr: Diese gelangen weitaus schwieriger überhaupt zur Kenntnis ihrer Regierung.
Dass eine Orientierungskrise das Schiff ins Schaukeln bringt – dass es sie überhaupt gibt: Dies ist Forschungsneuland. (Wie unzählige andere geschichtliche und politologische Themen.)
Bitte weitersagen: Problemmeldungen sind gut. Diskurse nicht minder. Unfaire Diskurse aber nicht. Gewalt erst recht nicht. Dies ist eine Orientierungskrise – und jedes Staatsschiff schaukelt.
Demokratien sind insbesondere verwundbar, wenn es an der erforderlichen politischen Bildung fehlt. Die heutigen Anstrengungen – verzehnfachen? Verhundertfachen? Es wäre für uns als PrognostikerInnen ein grundlegendes Kriterium für die politische Zukunft dieses Landes (wie des Kontinents und letztlich unseres gesamten Planeten).
co, so

Achtung: Schwere Orientierungskrise (Superkrise) – produktiv, gefahrvoll

Vorbemerkung: Eigentlich „fruchtbar“

Das Wort „produktiv“ im Titel dieses Beitrags müsste eigentlich „fruchtbar“ heißen – Orientierungskrisen sind ein fruchtbarer Boden für Neues. Allerdings: Ein produktives Zeitalter wird daraus erst, wenn wir Menschen produktiv sind. Ähnlich braucht ein fruchtbarer Boden auch erst noch den Samen (die Pflanzen), das geeignete Klima usw., damit tatsächlich ein Ertrag entsteht.

Zu modern geworden

Orientierungskrisen treten ein, weil man so viele traditionelle Vorstellungen „über Bord“ geworfen hat, dass sich eine neue Sicht der Welt bietet: zum Positiven wie zum Problematischen.
Orientierungskrisen sind deshalb so gefährliche Zeiten, weil sie gewissermaßen „ohne Geländer“ sind. Die haltenden, verhaltensbegrenzenden Wirkungen früherer traditioneller Wertvorstellungen und Konventionen fehlen. Sie fehlen nicht ganz (bei weitem nicht) – aber doch sehr spürbar.

Zu geringfügiger Grundkonsens – breiter Strauß der Verhaltensweisen

Der Wertekonsens ist in diesen akuten Krisenphasen (unsere wird 2015-50 andauern) zu reduziert. Man kann dies mit einem Blumenstrauß vergleichen: Je weiter unten man ihn nimmt, desto weiter kann er sich öffnen. D.h. desto mehr weitet sich das Spektrum der Ideen, der Verhaltensweisen.
Dazu tragen im Übrigen noch weitere Effekte bei: U.a. nimmt die gemeinsame Erfolgssicherheit ab – ein gigantischer „Entwicklungstreiber“. Zu wenige Dinge scheinen noch sicher. Woran festhalten; was neu denken und machen?
Aktuell haben wir einen Strauß wirklich langstieliger Blumen in einer wirklich kurzen Vase.

Ausprobieren, erkunden

Solche Veränderungen der Gesellschaft – sie sind höchst günstig für die Künste, für die Mode, fürs Design, für neue wissenschaftliche Ideen. Alles kommt in den Genuss neuer Freiheiten, eines neuen „Warum nicht auch anders?“; einer rasch wachsenden Akzeptanz für Neues; ja einem Bedürfnis danach.
Und Vieles wird neu ausprobiert: Unsinniges, das womöglich rasch verschwindet – oder Richtungsweisendes, das die Kultur für lange Zeit prägen wird.

Achtung: Prekärer Bereich der Politik

Im Unterschied zu anderen Lebensbereichen ist die Politik allerdings etwas Besonderes. Niemand stirbt an irrer Kleidung, unmöglichem Design oder schlechter Musik (obwohl: in manchen Aufführungen ist man knapp davor).
Politik ist dagegen ein besonderer Bereich; man kann sogar sagen: ein prekärer Bereich. Hier geht es immer um Macht und Gewalt, Leben und Tod – und ihre Bewältigung durch Recht und Vernunft. Politik muss man ernst nehmen. Oder ernst nehmen lernen.
Verfehlte, menschenfeindliche politische Ideen haben das 20. Jahrhundert zum schlimmsten aller Zeiten gemacht. Ein helles Jahrhundert des Fortschritts; ein düsteres Jahrhundert der vielen Opfer.

Zeit der Bewährung

Was bringt die Zukunft? In jedem Fall eine Zeit der Bewährung.
Orientierungskrisen sind immer – seit Generationen im Voraus – festgelegt. Wir können ihren Eintritt nicht abwehren, nicht einmal ihr Timing verändern – so lauten unsere Befunde. (Wir würden andere kommunizieren, hätten wir andere.)
Aber ob diese Krisen einer Gesellschaft, einer Weltzivilisation Chaos oder guten Rückenwind bringen – das betrifft unsere Verantwortung.
Orientierungskrisen stellen unsere politischen Institutionen auf den Prüfstand.
Und nicht minder unser politisches Denken.
Und unsere politische Disziplin.
Und unsere menschliche Ernsthaftigkeit.
Wie gut, wie richtig, wie belastungsfest ist unsere politische Welt, unsere politische Gemeinschaft?

Schiff und Wellen

Solche Veränderungen der „Orientierungssituation“ hatte man bislang nicht im Blick; das Forschungsgebiet fehlte einfach noch: Man konnte nicht unterscheiden, ob unsere Staatsschiffe mit großen Wellen kämpfen oder von sanfter Dünung gewiegt werden.
Moderne, gut regierte, auf einen breiten Verhaltenskonsens und gute Praxis gebaute Demokratien (genauer: rechtsstaatliche Demokratien) sind bemerkenswert gute Schiffe. Aber man muss sie segeln können.
Ein Problem: Andere Schiffstypen (Staatstypen) können Problemmeldungen viel leichter unterdrücken. Scheinbar schaukelt es bei uns besonders heftig. Tatsächlich würden vergleichende Blicke manchen antidemokratischen Schreihals ernüchtern.
co

Zum Begriff „Demokratie“: Nicht ohne Rechtsstaatlichkeit

Erstaunlich unklar – selbst begrifflich

Die Vorurteile über die Demokratie – man begegnet ihnen selbst bei hochgebildeten Menschen. Und sie beginnen bereits beim Begriff selbst. „Demokratie“ – das könne man leicht übersetzen. Das heiße einfach „Herrschaft des Volkes“ und damit Herrschaft des Durchschnitts.
Doch tatsächlich ist „Demokratie“ in den freien Gesellschaften nur als ein Kürzel für „demokratischer Rechtsstaat“ in Verwendung. Das aber ist eine ganz spezifische Staatsform.

Nur äußerliche Namensgleichheit

Natürlich gibt es, geht man allein vom Begriff aus, scheinbar auch andere Arten von Demokratien: etwa sog. „Volksdemokratien“. Welcher östliche Führer hätte uns das nicht früher gesagt? Und sogar ein junges Mitgliedsland der EU will uns belehren, der demokratische Rechtsstaat sei eben „nur eine“ Variante der Demokratie.
Indes: Ohne Rechtsstaatlichkeit wird eine ganz andere Staatsform daraus. Dann klebt das schöne Etikett „demokratisch“ in Wirklichkeit auf einer bloßen Mehrheitsdiktatur; und weil es eine solche ohne Lenkung kaum gibt, wird daraus üblicherweise eine autoritäre Mehrheitsherrschaft.

Nicht ohne Rechtsstaatlichkeit

Lord Dahrendorf hat gesagt, im Zweifel wäre ihm die rechtsstaatliche Seite wichtiger; und auch historisch hat sich der demokratische Rechtsstaat – unsere Staatsform – aus dem neuzeitlichen Rechtsstaat herausentwickelt.
Es gibt sehr wohl Varianten des demokratischen Rechtsstaats; aber ohne letzteres Merkmal hat man lediglich eine Namensverwandtschaft, ohne Vergleichbarkeit in der Sache. Ähnlich unsinnig wäre es, blaue Autos miteinander zu vergleichen.

Wiege der Demokratie?

Deshalb ist es auch nicht hilfreich, auf die Gründung der Demokratie in der Antike hinzuweisen; damals hätte man unsere heutige Staatsform keineswegs als Demokratie eingestuft, sondern als sog. „gemischte Staatsform“ (genus mixtum), der man – sehr zu Recht – eine viel höhere Stabilität beimaß. Denn sie enthält – in Politik, Verwaltung, Justiz – auch ausgeprägte „aristokratische“ und „monarchische“ Elemente. Was der Funktionalität und Spezialisierung nicht selten sehr dienlich ist.

„Mehr Demokratie“

Das Etikett „demokratisch“ ist dennoch nichts Äußerliches: In rechtsstaatlichen Demokratien regiert letztlich immer jemand, der politisch gewählt wurde (Exekutive). Dasselbe gilt für die grundlegende Gesetzgebung (Legislative). – Und es bedeutet, wie sich zeigen ließe, eine wesentliche Verbesserung des „bloßen“ Rechtsstaats. Mit weit mehr Gerechtigkeit und Fairness; und höherer Funktionalität.
Allerdings sind Demokratien wie Segelboote: Man muss sie auch segeln können; sonst können sie ihre Vorteile nicht entfalten. Das führt uns – immer wieder – zum demokratischen Menschen. Und zu dessen politischer und menschlicher Bildung.
co