Friedensprojekt EU

Über Jahrhunderte war für europäische Länder die Identität als kriegführende Macht nicht verpönt gewesen, sondern hatte als legitim gegolten. Und im bürgerlichen 19. Jahrhundert nahm der Militarismus sogar immer weiter zu – und zugleich eine seltsame Frontstellung zwischen den Nationen.
Im 20. Jahrhundert erreichte diese Tendenz ihre schrecklichen Exzesse – aber auch ihre Gegenbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet die Pioniere dieses neuen europäischen Denkens. Sie reichten dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland – von dessen NS-Regime der Krieg 1939 ausgegangen war – die Hand. Gegen Widerstände setzten sie den neuen friedlichen Mainstream durch.

 

Europas Frieden mit sich selbst
Man kann also sagen: Frieden setzt gewissermaßen eine innere Friedensfähigkeit voraus: den Willen zu friedlichen Mitteln, zu friedlichen Relationen, zu einer friedlichen Identität. Und man musste sich dazu erst durchringen.
Im Übrigen wundert es nicht – wenn man in das heutige Europa blickt –, dass gerade jene Kräfte den Friedensgedanken geringreden, die im eigenen Land kein Miteinander, sondern nur den politischen „Siegfrieden“ kennen, durch Unterwerfung, Manipulation, Kontrolle. Daran zeigt sich, wie sehr dieser europäische Frieden eine ständige Herausforderung bleibt.

 

Exkurs: Römische Verträge (1957) als europäische Friedensordnung
Somit ist 1957 die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (später EG, ab 1993 EU) der Beginn eines neuen Zeitalters: Europa schloß nun, so könnte man es ausdrücken, Frieden mit sich selbst.
Gewissermaßen wurde endlich das Friedensprojekt in Angriff genommen,

  • das der Wiener Kongress (1814/15) nicht sein konnte – weil sein Vertragswerk gegen die Völker gerichtet war;
  • und das auch der Versailler Vertrag (mit den Verträgen von St. Germain und Trianon 1919/20) nicht zustande brachte – weil man, von vielen Seiten, die nationale Brille noch nicht abgelegt hatte.

 

Frieden als Kooperationsprojekt

Dieses neue Friedenswerk, ab 1957, erhielt eine besondere Qualität durch etwas Zusätzliches: ein umfassendes Projekt der Annäherung.
Und gerade gemeinsame Wirtschaftsinteressen wurden als Chancen erkannt, um zu kooperieren – und über diese Kooperation auch vertrauensvolle politische Beziehungen zu festigen.

Heute wird dieser eigentliche politische Zweck von manchen Stimmen geleugnet. Indes: Wie hätte man ein gemeinsames Wirtschaftsprojekt starten können – ohne den entscheidenden politischen Leitgedanken des friedlichen Zusammenlebens?
Ausgehend vom noch kleinen Kreis der sechs Gründungsstaaten, haben sich seit 1957 immer mehr europäische Staaten zu einem neuen Verständnis ihrer Politik organisiert: einem Friedensprojekt dieses an inneren und äußeren Kriegen so „gesättigten“ Kontinents.

 

„Von der Venus“
In der Vorphase des Irakkriegs 2003 hatte ein bekannter, regierungsnaher US-Publizist die Formel geprägt, die Amerikaner kämen vom Mars, die Europäer von der Venus. Der Mars ist bekanntlich der antike Kriegsgott, Venus hingegen die Göttin der Liebe.
Man könnte zunächst ausrufen: Welch eine Unkenntnis! Jahrhundertelang haben sich die europäischen Mächte gegenseitig das Schlimmste angetan – kulminierend in jenem gleichzeitig hellsten, fortschrittlichsten wie dunkelsten, schrecklichsten, unmenschlichsten Jahrhundert aller Zeiten: dem zwanzigsten.
Aber man könnte eben auch sagen: Was für ein (unfreiwilliges) Kompliment!
Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die EU war insofern höchst gerechtfertigt.
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