Gerade haben wir – einfach für uns, in unserem Thinktank zeitanalyse.de – eine Liste der zehn größten Probleme Europas aufgestellt. Und nüchtern betrachtet, muss man sagen: Die Herren Trump, Putin, Xi tauchen darin gar nicht auf. Das bedeutet nicht etwa eine Unterschätzung dieser Herren – und anderer harter Gegner der EU; ganz im Gegenteil. Aber – oder soll man sagen, genau deshalb – gibt es vordringliche andere Probleme; oder, in Beratersprache formuliert: Herausforderungen. Also: Welche Herausforderungen stehen nun ganz oben auf der Liste?
Entfaltung der eigenen Stärke
Nun, für so manche LeserInnen dürfte die Antwort keine Überraschung sein, weil sie selbst ähnlich urteilen: Es ist – ganz notwendig – die Entfaltung der eigenen Stärke.
Die EU, heute, gleicht einem Tennisspieler bzw. einer Tennisspielerin, die auf den großen, entscheidenden Turnieren nichts gewinnen kann. Sie ist sogar eine hochbegabte Akteurin – die Kultur, die Erfindungskraft, auch die Wirtschaftsleistung zeigen es, ebenso wie ihre rechtsstaatliche Fundierung (als einem Top-Zukunftsfaktor). Doch diese Spielerin müsste richtig ernsthaft, methodisch trainieren.
Exkurs: Vom Problem – zur Herausforderung
Dies zu akzeptieren ist allerdings nicht nur eine Herausforderung, sondern ein Problem. Ein wirkliches, schweres Problem. Darüber steht ein großes „Vielleicht“ geschrieben! Vielleicht lösen wir es.
Denn dies setzt einen Mentalitätswandel voraus. Innerhalb des Problems Nr.1 ist er daher wiederum das wichtigste Teilproblem.
Positiv gesprochen: Wird der Wille zur Entwicklung, zum Besseren, Richtigeren geweckt – dann wird aus dem unabschätzbaren Problem eine sehr machbare Herausforderung.
Will man sich erst positiv entwickeln – dann findet man die rechten Wege.
Herausforderung – für unser eigenes politisches Denken
Man muss immer sehen: Diese EU hat über eine halbe Milliarde Einwohner; selbst die Eurozone für sich ist noch größer als die USA. – Aber weder EU noch Eurozone haben eine Regierung.
Man fühlt sich, als politisch denkender Bürger (m/w), ins 19. Jahrhundert zurückgeworfen. Damals musste man – in beklemmend unterlegener Position – dafür kämpfen, dass man wählen darf. Und Parlamente durften oftmals viel früher gewählt werden als Regierungen. Dies begrenzte die Macht der Parlamente, die Macht der BürgerInnen – sehr. Es bedeutete auch immer ein ungutes Zuviel an Entscheidungs- und Zukunftsmacht bei der Verwaltung, die besser dem politischen Diskurs, der politischen Sphäre übertragen worden wäre. So, wie heute in der EU.
Eine wirkliche politische Theorie der EU gibt es noch gar nicht. Sie muss auf unserer To-Do-Liste stehen.
(Auf die politische Pseudo-Theorie der vier Marktfreiheiten ist eigens einmal einzugehen – einschließlich ihres folgenschweren Postulats einer Bewegungsfreiheit aller EU-BürgerInnen, ohne Rücksicht auf die aufnehmenden Staaten; also jenes Prinzip, das, wie nichts anderes, den Brexit bewirkt hat.)
Ausblick: Vorteilhafte EU-Regierung
Dieses Abenteuer des politischen Denkens hält, das lässt sich schnell absehen, Überraschungen bereit – positive Überraschungen. U.a. wird die Vorteilhaftigkeit einer EU- (oder Eurozonen-)Regierung offenbar:
- Sie würde – ganz entscheidend – die nationalen Regierungen besser unterstützen,
- den BürgerInnen mehr Mitsprache auf EU-Ebene geben;
- und eine EU-Regierung würde auch das Parlament, u.a. durch mehr Konkurrenzdemokratie, in den Fokus rücken, also sehr aufwerten. (Früher hat man sogar im Geschichtsunterricht gelernt, dass ein Parlament, dem keine gewählte Regierung gegenübersteht, geschwächt ist – denn es war einer der Fehler des Deutschen Kaiserreichs.)
Im Übrigen zeigt sich auch rasch, dass ein „bundesstaatliches“ Europa keineswegs „mehr“ Europa bedeuten muss; im Gegenteil: Die Mitgliedstaaten der USA sind durch ihre Verfassung viel besser gegen eine Aushöhlung ihrer Rechte geschützt als die Mitgliedstaaten der EU.
We the People
Aber bevor all dies geschieht – muss es gewissermaßen in unseren Köpfen konzipiert werden.
Die EU von heute – das ist ein riesiges Schiff oder ein gigantischer Flieger, aber niemand sitzt wirklich am Steuer. Irre!
Alles beginnt damit, dass wir das nicht richtig finden. Wir!
Das erste Gründungsdokument einer modernen (flächenstaatlichen) Demokratie war die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, 1776. Und bekanntlich beginnt der Text mit den entscheidenden Worten: „We the People“. Wir das Volk.
Wir – sind davon betroffen
Wir das Volk – sind betroffen, wenn linke oder rechte Gruppen die EU zerstören. Oft mit Hilfe von außen. Wir sind auch betroffen, wenn Dinge scheitern: Es ist unsere Zukunft, unsere Stabilität, unsere Währung, unsere Wirtschaft, unsere freiheitliche Lebensweise, wenn die EU schlecht oder gar nicht regiert wird; wenn sich Abertausende von Köpfen um Drittrangiges kümmern – während kohärente Politik, sorgfältige Entscheidungsfindung durch Nachtsitzungen ersetzt wird (weil die politischen Kräfte tagsüber ja in ihren Hauptstädten regieren, wie es ihrem Wählerauftrag und Eid entspricht). –
Kurz: Wir benötigen Politik, politische Führung, auf europäischer Ebene. Das angebliche Elitenprojekt reicht keineswegs an die Funktionalität normaler Rechtsstaaten heran.
“This land is your land, this land is my land”
Auch in den USA musste der Gedanke einer gemeinsamen Nation, eines „We the People“ immer wieder erneuert werden. In der Great Depression, nachdem die Zauberlehrlinge der Wall Street die langjährige Wirtschaftskrise der 1930er ausgelöst hatten, entstand die heimliche Hymne der USA durch den fahrenden Sänger Woody Guthrie: „This land is your land, this land is my land (from California to the New York Island…)“. In den 1970ern hat man sich oft daran erinnert. Wir in Europa – We the People of Europe – sollten es auch.
Prognostische Schlüsselrolle des politischen Denkens
Ein ergänzender Gedanke aus prognostischer Sicht: Das politische Denken, der politische Grundkonsens bildet immer einen entscheidenden Zukunftsfaktor. In vielen Ländern Osteuropas hat man einen fairen Grundkonsens noch nicht im Repertoire – man kämpft mit harten Bandagen um die totale Kontrolle und instrumentalisiert dafür Recht und Medien. Für die betreffenden Länder lassen sich daraus – wie nicht anders denkbar – weitreichende Zukunftsfolgerungen ableiten.
Fortsetzung: Ereignisrahmen der Zukunft (Zukünfte)
Wir BürgerInnen Europas geben durch unser Denken vor, wie die EU institutionell gestaltet und welche Politik dadurch möglich wird.
Momentan ist dieses Denken viel zu offen nach unterschiedlichsten Richtungen und Denkmöglichkeiten – wie ein Strauß Blumen, den man sehr weit unten anfasst. Entsprechend weit aufgefächert ist das Spektrum möglicher europäischer Zukünfte. Es ist zu offen – auch für problematische Zukunftsverläufe.
Und wie ein Skifahrer, der viel zu breitbeinig fährt, um noch gut steuern zu können (was nichts Gutes verheißt), darf man auch in einer politischen Gemeinschaft nicht „zu breit“ daherkommen; auch dann verliert man die Möglichkeit zu steuern.
Also, zurück zur Tennisspielerin: Pflichtaufgabe politisches Denken, politische Analyse, zu entwickelnde politische Theorie. Täglich. Bis zur größten Fitness.
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Ergänzung: Orientierungskrise und politische Welt
Die moderne Welt erlebt, noch bis gegen 2050, eine Orientierungskrise: eine reguläre, nicht abwendbare Schwächephase des Menschen. Es ist ein Zeitalter höchster Kreativität; aber man muss die großen politischen Gefahren meistern. Und wer öfter auf zeitanalyse.de liest, weiß davon.
Wir alle kommen noch aus einem Geschichtsbild, das solche Zeitläufte nicht kennt. Wir PrognostikerInnen sind gerade erst dabei, dieses neue, leistungsfähigere, besser informierende Geschichtsbild auf die Monitore zu bringen.
Entsprechend dem bisherigen Verständnis hat sich, gerade die EU, die Erzählung gegeben, mit ihr komme die europäische Geschichte in einen sicheren Hafen.
Doch politische Körperschaften sind nie ein Hafen – sondern immer ein Schiff.
Es kann allerdings ein seetüchtiges Schiff sein, das durch dramatische Zeitläufte sogar – wie mancher Segler bei starkem – beste Fahrt aufnimmt. Es liegt an unserem politischen Denken.
Exkurs: Fortsetzung der Liste
Im Übrigen sollte man mit einem seltsamen Effekt rechnen: Wenn wir an unserer eigenen politischen Stärke arbeiten, dann rücken die (weiterhin zu Recht furchteinflößenden) Probleme für Europa (und nicht nur für EU-Europa) namens Trump, Putin und Xi womöglich eher mehr aus unserem Blickfeld. Womöglich rücken aber die Dinge, die wir tun – immer mehr in das ihre.
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