Dies ist eine Orientierungskrise!

Tiefer angelegter Wandel – global auftretend

Immer wieder fragen Intellektuelle, PolitikerInnen, ZeitgenossInnen: Was ist im Jahr 2015 und seither geschehen? – Viele Stimmen verweisen in Deutschland sofort auf die Flüchtlingskrise; doch diese taugt gewiss nicht als Erklärung für jene großen Veränderungen der politischen Landschaft, die längst im Gang waren. Sie erklärt nicht die starken antidemokratischen Kräfte in manchen Regionen; nicht die sehr kritischen Haltungen selbst der „Gemäßigten“ gegenüber der politischen Welt. Sie taugt auch kaum für das seither eingetretene veränderte Lebensgefühl: Ein Plus an Freiheit, aber auch Zügellosigkeit, ein Minus an Einbindung und gemeinsamer, plausibler Richtung.
Außerdem sollte man immer sehen, dass dies ein internationaler Wandel ist. Jede nationale Erklärung verbietet sich, wenn sich das Bild der politischen Welt – so dramatisch und in so vielen Ländern – verändert.

Seltsame Unduldsamkeit

Tatsächlich scheint uns, in unserem Thinktank, dass Deutschland umsichtig und nervenstark regiert wird, gerade wenn man die ungeheuren Sachzwänge sieht; aber auch die politische „Zwischenlage“ einer Bundesregierung zwischen dem sehr „staatenbündischen“ deutschen Föderalismus – und dem Staatenbund auf europäischer Ebene.
Doch selbst „gemäßigte“, pro-demokratische Medien – man verfolge aktuelle Interviews – haben einen bemerkenswert unduldsamen Ton. Als könnte man ihnen nie etwas Befriedigendes antworten; als käme es „nur aufs Handeln“ und nicht auf die gute Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung an. Und als wäre alle ausgewogene Politik schlecht, als könne nur ein beherzter Griff ins Lenkrad noch befriedigen.

Exkurs: Rallye

Nebenbei: Ein berühmter Rennfahrer, auf das Geheimnis seines Erfolgs angesprochen, antwortete: „Wenig lenken.“ In der Tat: Viel zu verändern in unserem Land – das ist einfach. Aber was dann noch übrig bleibt?
Es scheint auch, dass es PolitikerInnen mit wacher Wahrnehmung für die Schwierigkeiten und Zwänge der aktuellen politischen Welt gibt – während andere, nun: irgendwie vergangenen Dekaden, wenn nicht sogar quasi-romantischen weltanschaulichen Idealen nachhängen (und: auffälligerweise auch junge), nach denen sie die politische Welt beurteilen. (Und wehe, wenn die Realität davon abweicht – dann fühlt man sich ganz rasch zu jeder Illoyalität berechtigt.)

Achtung: Orientierungskrise

Ihnen allen muss aber, aus unserer analytischen Richtung eine Information zukommen: Dies ist eine Orientierungskrise! Und sie tritt keineswegs „schuldhaft“ ein; nein, solche Krisen kommen ganz regelmäßig; sie haben auch eine wichtige Funktion (die Vorbereitung der Neuorientierung).
Aber diese Dinge lassen sich nicht intuitiv erfassen, sondern erfordern Spezialisierung. (Man muss dazu weder Philosoph noch „Spitzenforscher“ sein – sondern die erforderlichen Arbeitsschritte auf sich nehmen.)
Das bedeutet gleichzeitig: So intuitiv, wie wir alle das gelernt haben, lässt sich die politische Welt schlechthin nicht erfassen.

Eine Orientierungskrise ist eine sehr belastende Situation.
Denn in ihr spalten sich Gesellschaften schnell; in ihr gelingt es schwerer, Gutes zu erhalten; in ihr darf man nicht mehr auf eine ‚heilende’ Eigendynamik der politischen Welt zählen, wie man sie aus früheren Dekaden kennt.
Die Zeiten vor 2015 sind vorbei. – Diesen Satz muss man sich intensiv vergegenwärtigen.

Ergänzung: Das Fehlen einer Erklärung als „Megafaktor“

Dass weder führende PolitikerInnen noch PublizistInnen und JournalistInnen noch PolitologInnen über eine Situationsanalyse verfügen, schwächt ihre Reputation. Zu Unrecht werden gute Leistungen und Beiträge verkannt – weil eben dieser, unausgesprochene, unerkannte Mangel wie ein Makel an ihnen hängt.

Neues Bild der politischen Welt erforderlich

Und doch: Eine Orientierungskrise ist ein gigantischer, dominierender Faktor der politischen Welt. Man muss sie „auf dem Bildschirm“ haben – sonst plant, entscheidet, urteilt man falsch. Im Übrigen wählt man dann auch falsch – denn die demokratische Öffentlichkeit geht ohne ein zureichendes Bild der Situation nicht minder fehl.
Wir alle stehen vor der Aufgabe, uns auf diese neuartige Situation einzustellen – für sie zu schreiben, zu überlegen, Programme zu konzipieren, Verhaltensweisen anzupassen. U.a. sind größte Behutsamkeit und ein konsensorientiertes Denken erforderlich.
co

 

PS: Nochmals eine kurze Beschreibung, um einige Hinweise ergänzt:
Orientierungskrisen treten in der modernen Zivilisation regelmäßig ein. Sie sind jeweils die letzte Phase vor einer Neuorientierung – münden also in ein sehr positives Zeitalter. Sie sind Phasen der Freiheit, der neuen Ideen, der Kreativität – aber auch der herabgesetzten Stabilität und der geringeren Einigkeit in Gesellschaft und Politik (weil eben der neue Weg noch nicht erkennbar ist).
In Orientierungskrisen ist man gewissermaßen nicht mehr traditionell genug (um noch auf diese Weise kollektiv orientiert zu sein) – aber noch nicht modern genug für die Neuorientierung (in unserem Fall: durch eine analytischere, empathischere Weise).
Wir empfehlen dazu unsere Downloads.
co