Staatsziel Glück – Geburt einer freien Gesellschaft

Staatsziel Glück – abgelehnt

Das Staatsziel „Glück“ im Himalaya-Staat Bhutan verzaubert uns zunächst und nimmt uns für sich ein. Wer sich jedoch mit der westlichen politischen Geschichte befasst, erfährt etwas Überraschendes: Auch wir hatten dieses Staatsziel; und sogar für lange Zeit. – Aber warum denn nicht mehr? Wer war dagegen? Wann? Mit welchen Gründen? – Wie angekündigt, muss das in diesem Blogeintrag behandelt werden.

Exkurs: Unaufgebbar?

Doch davor erreicht uns an dieser Stelle gewissermaßen ein virtueller Anruf aus der Antike: Nach deren elementarer Staatstheorie (Platon, Aristoteles) lässt sich dieses Staatsziel „Glück“ gar nicht aufgeben. Als Mensch kann man gar keinen anderen sinnvollen (Höchst-)Anspruch an seine eigene Gemeinschaft stellen.
Und in der Tat: Wie könnte man nicht einen Staat wünschen und favorisieren, der genau dieses höchste Gut anvisiert: das öffentliche Wohl (Salus publica, Glückseeligkeit, happiness)? – Weshalb sollte und dürfte man also dagegen sein?

Staat und Gesellschaft

Darauf geben uns Philosophen und Staatsmänner (m/w) insbesondere im (und seit dem) 18. Jahrhundert diese Antwort: Manche Dinge kann der einzelne Mensch für sich besser entscheiden als der Staat (für ihn). Und der optimale Staat enthält sich in diesen Dingen einer Bevormundung (seiner StaatsbürgerInnen). Dabei dachte man gerade an die Freiheit der Religion und der Wirtschaft.

Hintergrund: Unbegrenzte Macht des Fürsten

Man sollte vielleicht ergänzend erklären: In den vorausgehenden Jahrhunderten (vor allem im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert) hatten sich jene modernen Staaten herausgebildet (Territorialstaaten), in denen wir heute leben: Sie zeichnen sich durch unbegrenzte Macht im Inneren aus – nämlich durch, modern gesprochen, ihr „Gewaltmonopol“.
Der Souverän über solche Staaten hat – idealerweise – keine internen Gegenkräfte mehr (anders als im Mittelalter mit seinem „Personenverband“ aus Lehens- und Loyalitätsbeziehungen). Dieses Ideal ist im Übrigen – richtig. Und notwendig. Denn anders kann der Souverän sein staatliches Recht nicht durchsetzen. Alle modernen Staaten sind – aufgrund ihres Gewaltmonopols – Erben und Nachfolger dieses Zeitalters des fürstlichen „Absolutismus“.

Hintergrund: Staatsziel „Glück“ – als moralische Verpflichtung

Wie die staatliche Macht begrenzen? – Durch moralische Grundsätze für eine gute Regierung. Diese Pflichtbindung wurde in einem ganzen Schrifttum postuliert, im deutschen Raum in sog. Regimentstraktaten (Hans Maier); und sie ging in die Erziehung der Fürsten wie in die politische Praxis ein.
Die leitenden Ideen für diese moralisch-staatsphilosophische Begrenzung der staatlichen Willkürfreiheit bezog man im Übrigen aus der Antike – eben von Aristoteles: Der Fürst ist auf das öffentliche Wohl (Salus, Glück…) verpflichtet. Und viele Fürsten nahmen das ernst.

Ambivalente Wirkung des „Staatsziels Glück“

Das Staatsziel Glück hatte eine doppelte Wirkung: Als Verpflichtung – aber auch als Erlaubnis:
– Es band zwar einerseits, als moralischer Maßstab, den Herrscher;
– aber es gab ihm zugleich gewissermaßen die Erlaubnis, alles für das öffentliche Glück – nach seiner Auffassung und Einsicht – Notwendige zu entscheiden.
Das schloss auch religiöse und wirtschaftliche Dinge ein. Man kann sagen: Es gab einen legitimatorischen „Blankoscheck“.
Das Staatsziel Glück war noch zu undifferenziert und zu weit gefasst. Es verpflichtete den Herrscher – aber es gewährte ihm auch, gegenüber seinen Untertanen, ein Zuviel an Entscheidungsbefugnis.

Verdeutlichung: Frage der Letztentscheidung

Gleichwohl stiegen die Ansprüche (auch die eigenen Ansprüche) an die HerrscherInnen, wie sie dieses öffentliche Wohl zu verwirklichen hätten. Maria Theresia in Wien, Friedrich der II. von Preußen reformierten das Recht und die Verwaltung, setzten sich für eine unabhängige Justiz ein, verbesserten Böden und Infrastruktur. Sie reformierten und modernisierten ihre Länder, wie man oft gesagt hat, „von oben“.
Und der englische König hatte schon 1701 (mit dem Home Rule Act) seine wesentlichen Herrschaftsbefugnisse an das Parlament abgegeben. –
Dennoch bleibt die Frage, was der Herrscher – oder der Staat schlechthin – als solcher darf: Wer hat in welchen „Fragen des Glücks“ die Letztentscheidung – er oder seine Bürger (m/w)?

Problem des bevormundenden Staates

In jenem hochinteressanten, uns prägenden 18. Jahrhundert vollzog sich zugleich ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas): Es entwickelte sich eine bürgerliche Gesellschaft aus qualifizierten, gebildeten, gut informierten „Untertanen“. Und der Gedanke wurde immer dringlicher, dass man eben keinen Staat benötigt, der väterlich-„paternalistisch“ bevormundet (Immanuel Kant).

Recht auf private Verfolgung des Glücks

Das Ur-Dokument aller modernen Staaten, die ihren Bürgern (später auch Bürgerinnen) ihre Freiheiten der individuellen Lebensführung einräumen, ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776: Sie müsste ja eigentlich nur die Unabhängigkeit jener 13 Gründungsstaaten der USA von der englischen Krone erklären. Doch sie legt etwas viel Grundsätzlicheres fest: eine neue Art von Staatlichkeit und Politik, die allen Menschen ihre je individuelle Verfolgung des Glücks garantiert: das Recht auf ihren je individuellen „pursuit of happiness“.

…als Optimum und neuer Maßstab

Immanuel Kant hat, einige Jahre später, zur Zeit der Französischen Revolution, eine differenzierte Auslegung dieser neuen Haltung gegeben: Das öffentliche Wohl (Glück) bleibt gültiger, verpflichtender Maßstab für den Staat; aber nur ein Staat, der seinen Bürgern ihre Freiheitsrechte gewährt, verwirklicht diesen Anspruch tatsächlich.
Kant wandte sich damit gegen den „Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“: Es sei im Gegenteil genau der in der Praxis zu realisierende Anspruch. –
Uns BürgerInnen nötigt er allerdings ab, dass wir den „aufrechten Gang“ lernen.
Adam Smith versah seine – nahezu zeitgleiche – Theorie über die enormen Vorteile freien, nicht-bevormundeten Wirtschaftens mit der Bedingung, dass sie nur für moralisch gefestigte Gesellschaften gelte.

Das 19. und 20. Jahrhundert sollten die sukzessive Realisierung dieser Ideale – aber auch machtvolle und vielleicht sogar übermächtig scheinende Gegenkräfte mit sich bringen, die bis in unsere Zeit reichen. Wir stehen also – mit der Frage nach Staatsziel und Staatsform – letztlich nicht etwa vor längst geklärten historischen Fragen, sondern vor den Herausforderungen unserer modernen politischen Welt.

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