Picturing the methods: Projekt “Zusammenschau”

„Übertrag“: Rationale Schwächephase des Menschen

Im letzten Beitrag wurde ein Bild des aktuellen und kommenden Wandels skizziert: das Bild einer Schwächephase des Menschen – aber keiner irrationalen, unerklärlichen Schwäche, sondern einer rational erklärbaren. Denn einer kollektiven Neuorientierung – die bis gegen 2050 abgeschlossen ist – geht jene schwierige Phase voraus, die wir nun durchleben müssen: eine Phase der Freiheit und Kreativität, der neuen Sichtweisen und neuen Wege, aber auch des belasteten Lebensgefühls und des – gesellschaftlich folgenschweren – Mangels an gemeinsamen tragfähigen Wertvorstellungen.

Ergänzende Frage: Wie zuverlässig?

Ein Bild zu liefern – Picturing the future – gilt als elementare Aufgabe der Zukunftsforschung. Aber immer schwingt eine weitere Frage mit: Was ist dieses Bild wert? Wie zuverlässig ist es? Bildet es – fachlich gesprochen – nur eine Denkmöglichkeit, nur ein Szenario von vielen; oder müssen wir es als gegebenen Ereignisrahmen auffassen – innerhalb dessen alle sinnvoll denkbaren „Zukünfte“ liegen werden?
Darüber entscheiden die angewendeten Methoden (und in der Folge: die Qualität der Erkenntnisse): Sind es zweifelhafte? Oder sichere?

Projekt „Zusammenschau“

In unserem Fall geht die Frage noch tiefer: Wie hat man sich diese Analysen überhaupt vorzustellen? Die kurze Antwort lautet: Im Hintergrund der geschichtlichen Welt vollzieht sich ein Wandel des Menschen; ihn gilt es zu rekonstruieren (und letztlich zu erklären). Genauer:

Menschlicher Wandel im Hintergrund der Geschichte

Schon in der Frühphase geschichtlicher Forschung im 19. Jahrhundert wurde klar – jedenfalls erschloss es sich dem interdisziplinären Blick eines Hippolyte Taine (als einem Historiker mit besonders umfassenden Fragen): Hinter den verschiedenen Zeugnissen einer Zeit (und Zivilisation) verbirgt sich ein prägender Faktor – der menschliche Stand der Zeit. Er schließt dies aus Folgendem:

  • Verschiedene Bereiche der Zeit und Zivilisation zeigen verwandte Merkmale – von der Musik bis zur Gartenkunst.
  • Und noch genauer: Nicht nur irgendwie verwandte Bereiche der Zivilisation, sondern selbst heterogene, voneinander entfernt liegende Bereiche (also solche ohne große Berührungspunkte) zeigen verwandte „zeittypische“ Merkmale.

Und Taine gibt die schlüssige Antwort: Im Hintergrund der Zivilisation wirkt ein je besonderer Stand des Menschen. Dieser strahlt in die ganze Zivilisation, in alle ihre Lebens- und Tätigkeitsbereiche aus und prägt sie auf je „zeittypische“ Weise.
Daraus folgt, zwangsläufig, ein großes Forschungsprojekt:

Projekt: Rekonstruktion des menschlichen Wandels –

  • in seinem Verlauf, durch die Zeiten hindurch
  • und per Zusammenschau verschiedenster Lebensbereiche einer Zivilisation.

Aus heutiger Sicht bedeutet das: Wesentliche, hilfreiche, denkwürdige Perspektiven hätte schon das 19. Jahrhundert für uns bereit gehalten (so H. Taine) – also bereits die absolute Frühphase moderner methodischer Geschichtsforschung.
Allerdings hat Taine dieses Projekt nicht durchgeführt. (Er hätte damals kaum die Möglichkeiten gehabt; und man war – Taine inklusive – noch sehr geschichtsphilosophischen Ideen verhaftet.)
Diese Aufgabe durchzuführen, den menschlichen Wandel zu rekonstruieren – liegt aber in der Möglichkeit unseres Zeitalters.

Ergänzende Betrachtungen – Weiße Flecken auf der Landkarte

Exkurs: Gegen die orthodoxe Stimme in uns

Gleichwohl ergibt sich eine wirkliche Pointe: Denn wir alle hören eine gewisse orthodoxe Stimme in uns, die uns sagt, in unserer geschichtlichen Welt sei ein substanzielles Plus an Ordnung und Orientierung nicht zu bekommen. Es ist die wertvolle Stimme der Auffassungstreue – der Treue zu unserer Prägung –, die so spricht. Und damit eine elementare „Kulturtechnik“ des Menschen.
Allerdings muss eine weitere Kulturtechnik hinzutreten: nämlich zu lernen.
Tatsächlich muss man unserer inneren orthodoxen Stimme dies entgegnen:

Schon im 19. Jahrhundert war ein richtigeres, leistungsfähigeres Bild der geschichtlichen Welt verfügbar.

D.h. wir alle sind eigentlich in – fachlich gesehen – überholten Auffassungen geprägt.

Längst ein neues geschichtliches Weltbild

In der Mitte des 18. Jahrhunderts verfasste der Dichter Lessing ein spöttisches Epigramm auf den Philosophen Immanuel Kant. Denn dieser hatte die Formel für die kinetische Energie falsch bestimmt – nicht wissend, dass die richtige Formel bereits zwei Jahre zuvor gefunden worden war.
Offenbar leben auch wir heute nicht immer in sehr aufgeklärten, informierten Zeiten.
Der Autor ist über Taines präzise Aussagen, ehrlich gestanden, auch erst im Nachhinein gestolpert.

Vertiefung: Wenn die Organisation wüsste…

In der Organisationslehre gibt es einen bekannten Spruch: „Wenn die Organisation wüsste, was die Organisation weiß…“. Ähnlich könnte man das über die Gemeinschaft der Geschichtsforschenden sagen: Wenn sie wüsste, was sie weiß! – Während viele ihrer Bereiche bestens organisiert sind und einen schnellen Wissenstransfer erlauben – trifft es auf manche interdisziplinäre Aufgaben offenbar weniger zu.

Ausblick: Auf den Schultern früherer ForscherInnen

Gleichwohl gilt: Eine so umfassende Zusammenschau, durch die Zeiten hindurch, wie sie geboten ist, wurde nach Kenntnis des Autors nie unternommen. Sie wäre in der erforderlichen Weise auch nicht sehr viel früher möglich gewesen.
Denn wir heutigen AnalytikerInnen stehen auf den Schultern früherer Generationen. Ohne sie wären wir nicht handlungs- (nicht analyse-)fähig. –
Dazu der folgende Eintrag.
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