Picturing the methods: Projekt “Zusammenschau”

„Übertrag“: Rationale Schwächephase des Menschen

Im letzten Beitrag wurde ein Bild des aktuellen und kommenden Wandels skizziert: das Bild einer Schwächephase des Menschen – aber keiner irrationalen, unerklärlichen Schwäche, sondern einer rational erklärbaren. Denn einer kollektiven Neuorientierung – die bis gegen 2050 abgeschlossen ist – geht jene schwierige Phase voraus, die wir nun durchleben müssen: eine Phase der Freiheit und Kreativität, der neuen Sichtweisen und neuen Wege, aber auch des belasteten Lebensgefühls und des – gesellschaftlich folgenschweren – Mangels an gemeinsamen tragfähigen Wertvorstellungen.

Ergänzende Frage: Wie zuverlässig?

Ein Bild zu liefern – Picturing the future – gilt als elementare Aufgabe der Zukunftsforschung. Aber immer schwingt eine weitere Frage mit: Was ist dieses Bild wert? Wie zuverlässig ist es? Bildet es – fachlich gesprochen – nur eine Denkmöglichkeit, nur ein Szenario von vielen; oder müssen wir es als gegebenen Ereignisrahmen auffassen – innerhalb dessen alle sinnvoll denkbaren „Zukünfte“ liegen werden?
Darüber entscheiden die angewendeten Methoden (und in der Folge: die Qualität der Erkenntnisse): Sind es zweifelhafte? Oder sichere?

Projekt „Zusammenschau“

In unserem Fall geht die Frage noch tiefer: Wie hat man sich diese Analysen überhaupt vorzustellen? Die kurze Antwort lautet: Im Hintergrund der geschichtlichen Welt vollzieht sich ein Wandel des Menschen; ihn gilt es zu rekonstruieren (und letztlich zu erklären). Genauer:

Menschlicher Wandel im Hintergrund der Geschichte

Schon in der Frühphase geschichtlicher Forschung im 19. Jahrhundert wurde klar – jedenfalls erschloss es sich dem interdisziplinären Blick eines Hippolyte Taine (als einem Historiker mit besonders umfassenden Fragen): Hinter den verschiedenen Zeugnissen einer Zeit (und Zivilisation) verbirgt sich ein prägender Faktor – der menschliche Stand der Zeit. Er schließt dies aus Folgendem:

  • Verschiedene Bereiche der Zeit und Zivilisation zeigen verwandte Merkmale – von der Musik bis zur Gartenkunst.
  • Und noch genauer: Nicht nur irgendwie verwandte Bereiche der Zivilisation, sondern selbst heterogene, voneinander entfernt liegende Bereiche (also solche ohne große Berührungspunkte) zeigen verwandte „zeittypische“ Merkmale.

Und Taine gibt die schlüssige Antwort: Im Hintergrund der Zivilisation wirkt ein je besonderer Stand des Menschen. Dieser strahlt in die ganze Zivilisation, in alle ihre Lebens- und Tätigkeitsbereiche aus und prägt sie auf je „zeittypische“ Weise.
Daraus folgt, zwangsläufig, ein großes Forschungsprojekt:

Projekt: Rekonstruktion des menschlichen Wandels –

  • in seinem Verlauf, durch die Zeiten hindurch
  • und per Zusammenschau verschiedenster Lebensbereiche einer Zivilisation.

Aus heutiger Sicht bedeutet das: Wesentliche, hilfreiche, denkwürdige Perspektiven hätte schon das 19. Jahrhundert für uns bereit gehalten (so H. Taine) – also bereits die absolute Frühphase moderner methodischer Geschichtsforschung.
Allerdings hat Taine dieses Projekt nicht durchgeführt. (Er hätte damals kaum die Möglichkeiten gehabt; und man war – Taine inklusive – noch sehr geschichtsphilosophischen Ideen verhaftet.)
Diese Aufgabe durchzuführen, den menschlichen Wandel zu rekonstruieren – liegt aber in der Möglichkeit unseres Zeitalters.

Ergänzende Betrachtungen – Weiße Flecken auf der Landkarte

Exkurs: Gegen die orthodoxe Stimme in uns

Gleichwohl ergibt sich eine wirkliche Pointe: Denn wir alle hören eine gewisse orthodoxe Stimme in uns, die uns sagt, in unserer geschichtlichen Welt sei ein substanzielles Plus an Ordnung und Orientierung nicht zu bekommen. Es ist die wertvolle Stimme der Auffassungstreue – der Treue zu unserer Prägung –, die so spricht. Und damit eine elementare „Kulturtechnik“ des Menschen.
Allerdings muss eine weitere Kulturtechnik hinzutreten: nämlich zu lernen.
Tatsächlich muss man unserer inneren orthodoxen Stimme dies entgegnen:

Schon im 19. Jahrhundert war ein richtigeres, leistungsfähigeres Bild der geschichtlichen Welt verfügbar.

D.h. wir alle sind eigentlich in – fachlich gesehen – überholten Auffassungen geprägt.

Längst ein neues geschichtliches Weltbild

In der Mitte des 18. Jahrhunderts verfasste der Dichter Lessing ein spöttisches Epigramm auf den Philosophen Immanuel Kant. Denn dieser hatte die Formel für die kinetische Energie falsch bestimmt – nicht wissend, dass die richtige Formel bereits zwei Jahre zuvor gefunden worden war.
Offenbar leben auch wir heute nicht immer in sehr aufgeklärten, informierten Zeiten.
Der Autor ist über Taines präzise Aussagen, ehrlich gestanden, auch erst im Nachhinein gestolpert.

Vertiefung: Wenn die Organisation wüsste…

In der Organisationslehre gibt es einen bekannten Spruch: „Wenn die Organisation wüsste, was die Organisation weiß…“. Ähnlich könnte man das über die Gemeinschaft der Geschichtsforschenden sagen: Wenn sie wüsste, was sie weiß! – Während viele ihrer Bereiche bestens organisiert sind und einen schnellen Wissenstransfer erlauben – trifft es auf manche interdisziplinäre Aufgaben offenbar weniger zu.

Ausblick: Auf den Schultern früherer ForscherInnen

Gleichwohl gilt: Eine so umfassende Zusammenschau, durch die Zeiten hindurch, wie sie geboten ist, wurde nach Kenntnis des Autors nie unternommen. Sie wäre in der erforderlichen Weise auch nicht sehr viel früher möglich gewesen.
Denn wir heutigen AnalytikerInnen stehen auf den Schultern früherer Generationen. Ohne sie wären wir nicht handlungs- (nicht analyse-)fähig. –
Dazu der folgende Eintrag.
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Zukunftsbild – als Geschichtsbild (mit menschlichem Wandel)

Verehrte Leserin, verehrter Leser,
nach intensiven Analysen setzt dieser Blog wieder ein.
Was soll Zukunftsforschung leisten? Nun, eine bekannte Vorgabe steht außer Frage: Picturing the future. Also ein Zukunftsbild entwickeln. Darum geht es in diesem Beitrag.

Picturing the future

Ein solches Zukunftsbild gleicht allerdings, bei guter Analyse, eher einem Film: Wie schließt die Zukunft (mit ihrem Verlauf in den nächsten Jahren und Dekaden) an Gegenwart und Vergangenheit an? – Gibt man uns Zukunftsbilder, die man „freischwebend“ entwirft, ohne vorausgehende „Standortbestimmung“ unserer eigenen Zeit?
Oder gibt man ein umfassenderes Bild des Geschichtsprozesses? – Schon vor hundert Jahren sagte der Theologe und Geschichtsphilosoph Ernst Troeltsch sehr richtig: „Wir haben nur die eine Geschichte“ – die eine Geschichte nämlich, die alle drei Zeitmodi umfasst: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

A picture of (entire) history

An der Schwelle zur Moderne, im 18. Jahrhundert, als das Interesse an der „diesseitigen“ Welt des Wandels zunahm (im selben Grad, in dem man viele jenseitige „Gewissheiten“ distanzierter zu sehen begann) – da gab es eine neue Disziplin: Geschichtsphilosophie. Der Begriff ist so gut – wie, für heutige Menschen, irreführend. Denn die Geschichtsphilosophen (von Giambattista Vico über Voltaire, Herder, Kant, Condorcet bis zum deutschen Idealismus) hatten genau diesen umfassenden Begriff von Geschichte, an den uns Troeltsch erinnert: nicht bei der Vergangenheit stehenbleibend – sondern auf die Zukunft hin ausgerichtet.

Geschichtsphilosophie als Zukunftsphilosophie

Sie fragten:

  • Welche Merkmale der bisherigen Geschichte bestimmen deren Verlauf? (Man kann dies die Strukturfrage der Geschichte nennen; noch genauer: Quer- und Längsstruktur.)
  • Und daraus wurde die Frage zu klären versucht: Welche Zukunftstendenz (welches Endziel, welches, wie man sagte, „Ende“) ergibt sich daraus?

Die sog. Geschichtsphilosophen hatten also ihre Hauptblickrichtung zur Zukunft hin.
Was wird kommen? Worauf müssen wir uns einstellen?

Wir ErbInnen der Zukunftsphilosophie: Mehr unter Druck, aber bescheidenere Ziele

Und wir modernen ZukunftsforscherInnen sind die Nachfahren dieser Haltung. Und wir fragen ganz ähnlich – aber bescheidener und druckvoller zugleich – nach der Geschichte:

  • Insbesondere heißt das zu fragen, ob irgendwelche „Megafaktoren“ bislang fehlen – die dringend ins Bild der Vergangenheit wie Zukunft gehören: weil sie uns sonst „kalt erwischen“ können. (Eine ganze Reihe davon lernen wir gerade ernster zu nehmen: von der künstlichen Intelligenz bis zu ökologischen Veränderungen.)
  • Auch die alte berühmte Frage nach dem Endziel der Geschichte hat für uns moderne ZukunftsforscherInnen einen bescheideneren Charakter angenommen: möglichst für die nächsten Jahre und Dekaden halbwegs fundiert und treffend zu prognostizieren.
Nebenbei:
Dieses Bedürfnis nach einem „Endziel“ hatte in der Vergangenheit schreckliche Folgen: Linke und rechte Ideologien, im 19. Jahrhundert konzipiert, sagten den Menschen, dieses gute Ziel könne nur im Endsieg der eigenen Rasse oder Klasse bestehen – und man müsse sich dahin letztlich „durchmorden”. Im 20. Jahrhundert wurden diese Lehren realisiert – und machten es, in vielen Regionen, zum schrecklichsten Jahrhundert der Geschichte überhaupt.

Gewiss brauchen wir heute keine Stimmen, die uns diese alten, folgenschweren Ideen erneut verkaufen wollen.

Megafaktor menschlicher Wandel

Umso mehr stellt sich eine Aufgabe: Ein modernes, analytisch gewonnenes (nicht-ideologisches) Geschichtsbild immer weiter zu ergänzen.
Bereits im 19. Jahrhundert – in der Frühzeit moderner Geschichtsforschung – wies man auf einen Megafaktor hin, der unbedingt ins Monitoring aufgenommen werden muss: Im Hintergrund der geschichtlichen Welt vollzieht sich ein machtvoller Wandel – des Menschen selbst (H. Taine). Der Autor, zeitanalyse.de, widmet ihm höchste Aufmerksamkeit.

Zyklisch eintretende (und verlaufende) Orientierungskrisen

Hätte man den menschlichen Wandel nur längst auf dem Bildschirm gehabt!

  • Denn es zeigt sich, dass unser Menschsein zyklisch eintretende Schwächezeiten erfährt.
  • Woher kommen sie? Durch weitere Analysen erlangt man zur Schlüsselerkenntnis: Es gibt regelmäßige Orientierungskrisen.
Orientierungskrisen treten immer ein, wenn man schon fast – bis auf eine Generation – an eine Neuorientierung, eine neue Grundhaltung herangekommen ist (und damit ein ausgesprochen entspanntes, verheissungsvolles, angenehmes Zeitalter von großer Nachhaltigkeit und immer einfacheren Lebensbedingungen – weil sozial konvergent).

Also: Diese Neuorientierung wird gegen 2050 abgeschlossen.
Und: Alle Befunde über die jüngeren Altersgruppen fügen sich in dieses Bild und stützen diese Prognose (auch zeitlich).

Unterstützung der Jüngeren

Ganz wichtiges Element des Zukunftsbildes: Nichts geschieht in der Geschichte automatisch; alles nur, weil Menschen denken, planen, handeln, gestalten, beobachten, erkennen und Dinge voranbringen. Dies geschieht auf sämtlichen Ebenen des Lebens. (Nebenbei: Es gehört zu den Superstärken der Demokratie, genau darauf zu setzen.)
Aber man sollte auch sehen: Dieses gute Zeitalter setzt voraus, dass bis dahin keine zu großen Störungen eintreten, dass nicht zu viel (weltpolitisches, weltwirtschaftliches) Porzellan zerschlagen wird.
Das Lebensgefühl sagt heute den Menschen (scheinbar), man säße ja nur auf dem Beifahrersitz. Tatsächlich sind genau diese Generationen heute – durch alle Altersgruppen – die wichtigsten aller Zeiten. Auf jede(n) von uns kommt es an.

Zeittafel

    • Aktuell vollzieht sich ein rascher Übergang in eine neuartige Kultur (und Sicht der Dinge). Dieser Übergang wird schon um 2020 ans Ziel kommen.
    • Er mündet in ein zunächst sehr abgekühltes Lebensgefühl – worauf bald eine Beruhigung einsetzt.
    • Sie schafft, noch in der ersten Hälfte der 2020er Jahre (und sofern der Ablauf nicht weltpolitisch gestört wird), viele Voraussetzungen für eine emotionale Erholung, eine Hoch- und Boomzeit der weiteren Dekade.

 

Ausblick: Picturing the methods

Ausblick für den Blog: Wir müssen bald einmal ein ergänzendes „Picturing“-Thema durchnehmen: das Bild der Forschungen. Wie erforscht man den menschlichen Wandel? Durch welche Methoden gelangt man in diesen verborgenen, aber zentralen Bereich der geschichtlichen Welt? Welche Abenteuer erwarten uns auf diesem Weg? („Methode“ heißt ja Weg – Weg der Wahrheit, freier: Weg der Erkenntnis.)
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Dies ist eine Orientierungskrise!

Tiefer angelegter Wandel – global auftretend

Immer wieder fragen Intellektuelle, PolitikerInnen, ZeitgenossInnen: Was ist im Jahr 2015 und seither geschehen? – Viele Stimmen verweisen in Deutschland sofort auf die Flüchtlingskrise; doch diese taugt gewiss nicht als Erklärung für jene großen Veränderungen der politischen Landschaft, die längst im Gang waren. Sie erklärt nicht die starken antidemokratischen Kräfte in manchen Regionen; nicht die sehr kritischen Haltungen selbst der „Gemäßigten“ gegenüber der politischen Welt. Sie taugt auch kaum für das seither eingetretene veränderte Lebensgefühl: Ein Plus an Freiheit, aber auch Zügellosigkeit, ein Minus an Einbindung und gemeinsamer, plausibler Richtung.
Außerdem sollte man immer sehen, dass dies ein internationaler Wandel ist. Jede nationale Erklärung verbietet sich, wenn sich das Bild der politischen Welt – so dramatisch und in so vielen Ländern – verändert.

Seltsame Unduldsamkeit

Tatsächlich scheint uns, in unserem Thinktank, dass Deutschland umsichtig und nervenstark regiert wird, gerade wenn man die ungeheuren Sachzwänge sieht; aber auch die politische „Zwischenlage“ einer Bundesregierung zwischen dem sehr „staatenbündischen“ deutschen Föderalismus – und dem Staatenbund auf europäischer Ebene.
Doch selbst „gemäßigte“, pro-demokratische Medien – man verfolge aktuelle Interviews – haben einen bemerkenswert unduldsamen Ton. Als könnte man ihnen nie etwas Befriedigendes antworten; als käme es „nur aufs Handeln“ und nicht auf die gute Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung an. Und als wäre alle ausgewogene Politik schlecht, als könne nur ein beherzter Griff ins Lenkrad noch befriedigen.

Exkurs: Rallye

Nebenbei: Ein berühmter Rennfahrer, auf das Geheimnis seines Erfolgs angesprochen, antwortete: „Wenig lenken.“ In der Tat: Viel zu verändern in unserem Land – das ist einfach. Aber was dann noch übrig bleibt?
Es scheint auch, dass es PolitikerInnen mit wacher Wahrnehmung für die Schwierigkeiten und Zwänge der aktuellen politischen Welt gibt – während andere, nun: irgendwie vergangenen Dekaden, wenn nicht sogar quasi-romantischen weltanschaulichen Idealen nachhängen (und: auffälligerweise auch junge), nach denen sie die politische Welt beurteilen. (Und wehe, wenn die Realität davon abweicht – dann fühlt man sich ganz rasch zu jeder Illoyalität berechtigt.)

Achtung: Orientierungskrise

Ihnen allen muss aber, aus unserer analytischen Richtung eine Information zukommen: Dies ist eine Orientierungskrise! Und sie tritt keineswegs „schuldhaft“ ein; nein, solche Krisen kommen ganz regelmäßig; sie haben auch eine wichtige Funktion (die Vorbereitung der Neuorientierung).
Aber diese Dinge lassen sich nicht intuitiv erfassen, sondern erfordern Spezialisierung. (Man muss dazu weder Philosoph noch „Spitzenforscher“ sein – sondern die erforderlichen Arbeitsschritte auf sich nehmen.)
Das bedeutet gleichzeitig: So intuitiv, wie wir alle das gelernt haben, lässt sich die politische Welt schlechthin nicht erfassen.

Eine Orientierungskrise ist eine sehr belastende Situation.
Denn in ihr spalten sich Gesellschaften schnell; in ihr gelingt es schwerer, Gutes zu erhalten; in ihr darf man nicht mehr auf eine ‚heilende’ Eigendynamik der politischen Welt zählen, wie man sie aus früheren Dekaden kennt.
Die Zeiten vor 2015 sind vorbei. – Diesen Satz muss man sich intensiv vergegenwärtigen.

Ergänzung: Das Fehlen einer Erklärung als „Megafaktor“

Dass weder führende PolitikerInnen noch PublizistInnen und JournalistInnen noch PolitologInnen über eine Situationsanalyse verfügen, schwächt ihre Reputation. Zu Unrecht werden gute Leistungen und Beiträge verkannt – weil eben dieser, unausgesprochene, unerkannte Mangel wie ein Makel an ihnen hängt.

Neues Bild der politischen Welt erforderlich

Und doch: Eine Orientierungskrise ist ein gigantischer, dominierender Faktor der politischen Welt. Man muss sie „auf dem Bildschirm“ haben – sonst plant, entscheidet, urteilt man falsch. Im Übrigen wählt man dann auch falsch – denn die demokratische Öffentlichkeit geht ohne ein zureichendes Bild der Situation nicht minder fehl.
Wir alle stehen vor der Aufgabe, uns auf diese neuartige Situation einzustellen – für sie zu schreiben, zu überlegen, Programme zu konzipieren, Verhaltensweisen anzupassen. U.a. sind größte Behutsamkeit und ein konsensorientiertes Denken erforderlich.
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PS: Nochmals eine kurze Beschreibung, um einige Hinweise ergänzt:
Orientierungskrisen treten in der modernen Zivilisation regelmäßig ein. Sie sind jeweils die letzte Phase vor einer Neuorientierung – münden also in ein sehr positives Zeitalter. Sie sind Phasen der Freiheit, der neuen Ideen, der Kreativität – aber auch der herabgesetzten Stabilität und der geringeren Einigkeit in Gesellschaft und Politik (weil eben der neue Weg noch nicht erkennbar ist).
In Orientierungskrisen ist man gewissermaßen nicht mehr traditionell genug (um noch auf diese Weise kollektiv orientiert zu sein) – aber noch nicht modern genug für die Neuorientierung (in unserem Fall: durch eine analytischere, empathischere Weise).
Wir empfehlen dazu unsere Downloads.
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Staatsziel Glück – Geburt einer freien Gesellschaft

Staatsziel Glück – abgelehnt

Das Staatsziel „Glück“ im Himalaya-Staat Bhutan verzaubert uns zunächst und nimmt uns für sich ein. Wer sich jedoch mit der westlichen politischen Geschichte befasst, erfährt etwas Überraschendes: Auch wir hatten dieses Staatsziel; und sogar für lange Zeit. – Aber warum denn nicht mehr? Wer war dagegen? Wann? Mit welchen Gründen? – Wie angekündigt, muss das in diesem Blogeintrag behandelt werden.

Exkurs: Unaufgebbar?

Doch davor erreicht uns an dieser Stelle gewissermaßen ein virtueller Anruf aus der Antike: Nach deren elementarer Staatstheorie (Platon, Aristoteles) lässt sich dieses Staatsziel „Glück“ gar nicht aufgeben. Als Mensch kann man gar keinen anderen sinnvollen (Höchst-)Anspruch an seine eigene Gemeinschaft stellen.
Und in der Tat: Wie könnte man nicht einen Staat wünschen und favorisieren, der genau dieses höchste Gut anvisiert: das öffentliche Wohl (Salus publica, Glückseeligkeit, happiness)? – Weshalb sollte und dürfte man also dagegen sein?

Staat und Gesellschaft

Darauf geben uns Philosophen und Staatsmänner (m/w) insbesondere im (und seit dem) 18. Jahrhundert diese Antwort: Manche Dinge kann der einzelne Mensch für sich besser entscheiden als der Staat (für ihn). Und der optimale Staat enthält sich in diesen Dingen einer Bevormundung (seiner StaatsbürgerInnen). Dabei dachte man gerade an die Freiheit der Religion und der Wirtschaft.

Hintergrund: Unbegrenzte Macht des Fürsten

Man sollte vielleicht ergänzend erklären: In den vorausgehenden Jahrhunderten (vor allem im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert) hatten sich jene modernen Staaten herausgebildet (Territorialstaaten), in denen wir heute leben: Sie zeichnen sich durch unbegrenzte Macht im Inneren aus – nämlich durch, modern gesprochen, ihr „Gewaltmonopol“.
Der Souverän über solche Staaten hat – idealerweise – keine internen Gegenkräfte mehr (anders als im Mittelalter mit seinem „Personenverband“ aus Lehens- und Loyalitätsbeziehungen). Dieses Ideal ist im Übrigen – richtig. Und notwendig. Denn anders kann der Souverän sein staatliches Recht nicht durchsetzen. Alle modernen Staaten sind – aufgrund ihres Gewaltmonopols – Erben und Nachfolger dieses Zeitalters des fürstlichen „Absolutismus“.

Hintergrund: Staatsziel „Glück“ – als moralische Verpflichtung

Wie die staatliche Macht begrenzen? – Durch moralische Grundsätze für eine gute Regierung. Diese Pflichtbindung wurde in einem ganzen Schrifttum postuliert, im deutschen Raum in sog. Regimentstraktaten (Hans Maier); und sie ging in die Erziehung der Fürsten wie in die politische Praxis ein.
Die leitenden Ideen für diese moralisch-staatsphilosophische Begrenzung der staatlichen Willkürfreiheit bezog man im Übrigen aus der Antike – eben von Aristoteles: Der Fürst ist auf das öffentliche Wohl (Salus, Glück…) verpflichtet. Und viele Fürsten nahmen das ernst.

Ambivalente Wirkung des „Staatsziels Glück“

Das Staatsziel Glück hatte eine doppelte Wirkung: Als Verpflichtung – aber auch als Erlaubnis:
– Es band zwar einerseits, als moralischer Maßstab, den Herrscher;
– aber es gab ihm zugleich gewissermaßen die Erlaubnis, alles für das öffentliche Glück – nach seiner Auffassung und Einsicht – Notwendige zu entscheiden.
Das schloss auch religiöse und wirtschaftliche Dinge ein. Man kann sagen: Es gab einen legitimatorischen „Blankoscheck“.
Das Staatsziel Glück war noch zu undifferenziert und zu weit gefasst. Es verpflichtete den Herrscher – aber es gewährte ihm auch, gegenüber seinen Untertanen, ein Zuviel an Entscheidungsbefugnis.

Verdeutlichung: Frage der Letztentscheidung

Gleichwohl stiegen die Ansprüche (auch die eigenen Ansprüche) an die HerrscherInnen, wie sie dieses öffentliche Wohl zu verwirklichen hätten. Maria Theresia in Wien, Friedrich der II. von Preußen reformierten das Recht und die Verwaltung, setzten sich für eine unabhängige Justiz ein, verbesserten Böden und Infrastruktur. Sie reformierten und modernisierten ihre Länder, wie man oft gesagt hat, „von oben“.
Und der englische König hatte schon 1701 (mit dem Home Rule Act) seine wesentlichen Herrschaftsbefugnisse an das Parlament abgegeben. –
Dennoch bleibt die Frage, was der Herrscher – oder der Staat schlechthin – als solcher darf: Wer hat in welchen „Fragen des Glücks“ die Letztentscheidung – er oder seine Bürger (m/w)?

Problem des bevormundenden Staates

In jenem hochinteressanten, uns prägenden 18. Jahrhundert vollzog sich zugleich ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas): Es entwickelte sich eine bürgerliche Gesellschaft aus qualifizierten, gebildeten, gut informierten „Untertanen“. Und der Gedanke wurde immer dringlicher, dass man eben keinen Staat benötigt, der väterlich-„paternalistisch“ bevormundet (Immanuel Kant).

Recht auf private Verfolgung des Glücks

Das Ur-Dokument aller modernen Staaten, die ihren Bürgern (später auch Bürgerinnen) ihre Freiheiten der individuellen Lebensführung einräumen, ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776: Sie müsste ja eigentlich nur die Unabhängigkeit jener 13 Gründungsstaaten der USA von der englischen Krone erklären. Doch sie legt etwas viel Grundsätzlicheres fest: eine neue Art von Staatlichkeit und Politik, die allen Menschen ihre je individuelle Verfolgung des Glücks garantiert: das Recht auf ihren je individuellen „pursuit of happiness“.

…als Optimum und neuer Maßstab

Immanuel Kant hat, einige Jahre später, zur Zeit der Französischen Revolution, eine differenzierte Auslegung dieser neuen Haltung gegeben: Das öffentliche Wohl (Glück) bleibt gültiger, verpflichtender Maßstab für den Staat; aber nur ein Staat, der seinen Bürgern ihre Freiheitsrechte gewährt, verwirklicht diesen Anspruch tatsächlich.
Kant wandte sich damit gegen den „Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“: Es sei im Gegenteil genau der in der Praxis zu realisierende Anspruch. –
Uns BürgerInnen nötigt er allerdings ab, dass wir den „aufrechten Gang“ lernen.
Adam Smith versah seine – nahezu zeitgleiche – Theorie über die enormen Vorteile freien, nicht-bevormundeten Wirtschaftens mit der Bedingung, dass sie nur für moralisch gefestigte Gesellschaften gelte.

Das 19. und 20. Jahrhundert sollten die sukzessive Realisierung dieser Ideale – aber auch machtvolle und vielleicht sogar übermächtig scheinende Gegenkräfte mit sich bringen, die bis in unsere Zeit reichen. Wir stehen also – mit der Frage nach Staatsziel und Staatsform – letztlich nicht etwa vor längst geklärten historischen Fragen, sondern vor den Herausforderungen unserer modernen politischen Welt.

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Staatsziel: Glück

In den Höhen und Tälern des Himalaya liegt das Königreich Bhutan. Und immer wieder einmal hört man entzückt und verwundert sagen, das Staatsziel dort sei das Glück – nämlich das Glück der Untertanen.
„Staatsziel Glück“ – wie romantisch! Wie persönlich!
Und man denkt vielleicht sogar darüber nach, wie das zu bewerkstelligen sei und was das bedeute. (Und natürlich ist eine andere Art von „Staatsziel Glück“ gemeint als in Las Vegas, Nevada, oder in Macao oder in der Staatlichen Spielbank Bad Reichenhall – das ist uns schon klar.)

Wir alle sind früher ein Bhutan – gewesen

Aber irgendwann fängt und besinnt sich der politische Autor. Denn man muss wissen: Wir alle – jedenfalls in der westlichen Welt – kommen aus Staaten, in denen das „Staatsziel Glück“ über lange Zeit galt. Und alle modernen Staaten haben sich aus vormodernen Staaten herausentwickelt, in denen dieses „Glück“ als Leitbegriff diente. Im Englischen heißt es „happiness“, im vormodernen Deutsch „Glückseeligkeit“ (ja, mit doppeltem ee; ältere Gelehrte wissen das noch); auf Lateinisch „salus“ bzw. „salus publica“. Man könnte also sagen: Wir alle entstammen einer Art Bhutan.

Exkurs: Eudämonie

All dies sind letztlich Übersetzungen des griechischen „Eudämonie“ („eudaimonia“); denn die ältere Staatslehre war aristotelisch geprägt: Die Gedanken des (neben Platon und Sokrates) ersten und ältesten Stammvaters der politischen Wissenschaften, Aristoteles, waren für neuzeitliche Staaten maßgeblich.
Sind sie es noch? Nein. Zum Glück! Aber man will – und geht in vielen Staaten – machtvoll wieder dorthin zurück.

Independence Day

Meine Schwester und Mitstreiterin (sowie politologische Artgenossin) Stefanie Obermaier wollte gerne einen Beitrag zum 4. Juli (Independence Day), also dem US-amerikanischen Unabhängigkeitstag, an dem jährlich der Unabhängigkeitserklärung von 1776 gedacht wird. – Nun kommt mein Beitrag (nebst einigen folgenden) erst im Nachhinein. Aber das Thema behält seine Gültigkeit über den Tag und das Jahr hinaus; und das gilt auch für die Einsichten und Entscheidungen, zu denen es uns drängt. Die 13 amerikanischen Gründungsstaaten erklärten nämlich nicht allein ihren Austritt aus dem britischen Königreich; und auch nicht nur ihren Zusammenschluss (zunächst nur zu einem Staatenbund) – sondern verbanden das mit einem grundlegenden politischen Dokument: Sie erklärten darin ihre Absage an das bisherige Staatsziel Glück.
Nächster Eintrag: Warum.
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